Veröffentlicht am

»Repression wirkt«

Tausend gekesselte Aktivist*innen bei den Tag-X-Protesten Anfang Juni in Leipzig zeigen, der Staat hat ein Problem mit der radikalen Linken – und schöpft alle Mittel aus, gegen sie vorzugehen. Von Leipzig bis nach Hamburg. Auf der Spurensuche der Repression.


Es ist ein warmer Sommertag, eine Woche nach den Ereignissen in Leipzig. Auf dem Hamburger Fischmarkt treffen wir drei junge Anarchist*innen. Nach Schwarzem Block sieht keine*r der drei aus. Passend zu den 25 Grad tragen sie kurze Kleidung. Nur ein Anarchie-A an der Bauchtasche gibt Hinweise auf das politische Engagement. Alle drei waren am 3. Juni in Leipzig, alle drei landeten im Kessel.

„Es war ein Ereignis, wo man gemerkt hat, wie machtvoll der Staat ist und wie er Protest im Keim ersticken kann“, sagt Hildegard. „Aus meiner Sicht war das eine große Niederlage für die deutsche Linke“, führt der 19-Jährige fort. Elisabeth und Malte, beide 18, nicken zustimmend. Um die Anonymität der drei Aktivist*innen zu wahren, sind die Namen geändert. Alle drei berichten ruhig und antworten ausführlich. Den Ausflug nach Leipzig hatten sich die Aktivist*innen anders vorgestellt. Statt Protest auf der Straße standen sie stundenlang dicht gedrängt zwischen Büschen in einem Park. Stundenlang darauf wartend, abgeführt, fotografiert und durchsucht zu werden. Mit dem Vorwurf: “Schwerer Landfriedensbruch”.

Foto: Timo Knorr

Aber der Reihe nach: Am 31. Mai fiel am Oberlandesgericht Dresden das Urteil im „Antifa Ost“-Verfahren. Lina E. und ihre drei Mitangeklagten wurden für Angriffe auf Neonazis und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe verurteilt – trotz geringer Beweislage. Mittlerweile haben beide Seiten, Angeklagte wie Staatsanwaltschaft, Revision eingelegt. 

Für viele radikale Linke ist das Urteil und das Verfahren mit fast 100 Verhandlungstagen das Ergebnis „politischer Justiz“. Schon zu Beginn des Prozesses demonstrierten im September 2021 rund 5.000 Menschen bei der „Wir sind alle Linx“-Demo in Leipzig. Einsatzkräfte, Banken und Polizeiwachen wurden aus der Demo heraus angegriffen. Am Abend brannten Barrikaden in Connewitz. Ein Ereignis, das sich aus Sicht der Behörden wohl nicht wiederholen sollte. Für die Demonstration zur Urteilsverkündung wurde als „Tag X-Demo“ schon über Monate mobilisiert. In einem Aufruf war vom „größten Black Block in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung“ die Rede.

Mit einer Allgemeinverfügung schränkte die Stadt Leipzig das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ein. Demnach war es „jedermann untersagt, an dem Samstag und Sonntag (3. und 4. Juni 2023) nach der Urteilsverkündung im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren […], öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel zu veranstalten oder daran teilzunehmen, welche sich inhaltlich auf den Antifa-Ost-Prozess bzw. dessen Angeklagte beziehen“. Weil mit einem „unfriedlichen Verlauf“ zu rechnen sei, verbot die Stadt Leipzig zusätzlich die bereits angemeldete Versammlung sowie jegliche Ersatzveranstaltung. Eilanträge vor Gericht blieben erfolglos, die Demo blieb verboten.

 Die Wut auf die Straße tragen

Malte, Elisabeth und Hildegard hat das Verbot nicht abgeschreckt. Im Gegenteil. „Das Verbot hat mich eigentlich darin bestärkt, dass der Staat versucht, den Protest im Keim zu ersticken“, sagt Hildegard. Seine Hoffnung war, ein ähnlich „kraftvolles“ Zeichen wie bei der „Wir sind alle Linx“-Demo auf die Straße zu tragen, um die Solidarität mit den Angeklagten zu zeigen. Auch Elisabeth betont, sie sei nicht zum Steineschmeißen nach Leipzig gefahren, „sondern aus einer Wut darüber, wie der Prozess gelaufen ist, aus einer Wut darüber, wie repressiv der Staat vorgeht“.

Genau wie hunderte andere beteiligten sich die drei Hamburger Anarchist*innen an der angemeldeten Versammlung auf dem Alexis-Schumann-Platz, die sich gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit richtete. Anders als angemeldet, durfte die Demonstration nicht loslaufen – wegen Vermummung. Für die bereits behelmten Polizist*innen war der Angriff auf zwei Polizeifahrzeuge am Rand der Demo – so wirkte es vor Ort – der „willkommene“ Anlass, von mehreren Seiten in die Demo zu stürmen.

Foto: Timo Knorr

Die Einsatzkräfte wurden dabei an mehreren Stellen mit Pyrotechnik und Pflastersteinen angegriffen. Der Großteil der Demo versuchte aber der Situation zu entkommen oder sich vor Angriffen der Einsatzkräfte zu schützen. Mehrere hundert Aktivist*innen bildeten eine Traube am Rand des Heinrich-Schütz-Platzes. Die ersten Reihen hakten sich ein, während von allen Seiten Polizist*innen angestürmt kamen. Nach Recherchen der ZEIT hatten sich auch Beamt*innen in szenetypischer Bekleidung und vermummt unter die teils gewalttätigen Demonstrierenden gemischt. Sogenannte Tatbeobachter*innen werden in Polizeikreisen als legitimes Mittel betrachtet, um Gewalttäter zu „markieren“ und festnehmen zu können. Auch ein Kriminalbeamter und ein Staatsanwalt waren vermummt in der Demo, wie die Polizei auf Nachfrage von Journalist*innen bestätigte.

Der Kessel

Den Auslöser für die Eskalation hatten Elisabeth, Malte und Hildegard gar nicht mitbekommen. Hildegard berichtet, er habe Steine und Pyrotechnik fliegen sehen und wollte mit seiner Bezugsgruppe den Platz verlassen, als er im Kessel landete. Elisabeth und Malte, die zusammen unterwegs waren, wussten nach eigenen Aussagen am Anfang gar nicht, dass sie eingekesselt sind. „Mindestens die erste halbe Stunde war er schwer zu atmen“, so dicht gedrängt wären die Menschen gestanden, sagt Elisabeth.

Verletzte Personen wären über längere Zeit nicht versorgt oder rausgelassen worden, berichten die drei Aktivist*innen. Das „Sanitätsnetzwerk Hamburg“, eine von vielen Demosanitätsstrukturen vor Ort, berichtet von Behinderungen ihrer Arbeit. Eingesetzte Polizist*innen hätte die Sanitäter mit Aussagen wie „die da drin brauchen keine Hilfe, das sind ja Straftäter“ nicht durchgelassen, berichtet Pressesprecher Alexander Klein. Das Sanitätsnetzwerk berichtet von Panikattacken, von chirurgischen Verletzungen und Fällen von Unterkühlung.

Schilderungen, die sich mit anderen Berichten decken. Aufnahmen in verschiedenen Medienberichten zeigen, wie Polizist*innen mit Schlagstöcken wild um sich schlagen, Menschen gezielt ins Gesicht boxen. Der Kreuzer Leipzig hat mit einem minderjährigen Aktivisten gesprochen, der nach Schlägen durch die Polizei mit einer Jochbeinprellung und einer mittleren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Die Polizei spricht im Nachhinein von 1.040 Personen, die wegen des Anfangsverdachts auf schweren Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gefährliche Körperverletzung zur Identitätsfeststellung auf dem Heinrich-Schütz-Platz „festgesetzt und umschlossen“ wurde. Nach Angaben der Polizei waren 82 davon minderjährig. Es wurde eine dreistellige Zahl an Handys als Beweismittel beschlagnahmt oder sichergestellt. 82 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 30 Personen vorläufig festgenommen.

Brennende Barrikaden, Angriffe auf eine Polizeiwache und Einsatzfahrzeuge blieben am Abend in Connewitz aber nicht aus – auch am Vorabend brannten in den Straßen Barrikaden. Zehn Personen saßen wegen der Proteste am „Tag-X“-Wochenende in Leipzig zwischenzeitlich in U-Haft. Unterstützer*innen warfen der Jusitz dabei vor, mit dem Leben einer Person zu spielen. Mehrfach habe die Ärztin in der JVA Leipzig eigenmächtig die Medikation eines Inhaftierten mit Epilepsie und Dissoziationsstörung geändert. Zweimal hätte die Person ins Krankenhaus gebracht werden müssen. So schreiben es Unterstützer*innen.

Foto: Timo Knorr

Frage: Habt ihr damit gerechnet, dass es so enden kann,
als ihr nach Leipzig gefahren seid?

Malte: Ne.

Hildegard: Nö.

Elisabeth: Ich habe damit gerechnet, dass es in irgendeiner
Form eskalieren kann, ich habe aber nicht
mit so einer Zermürbung gerechnet.


Die Frage der Verhältnismäßigkeit

„Du kannst den Kessel nicht nachvollziehen, wenn du nicht da warst“, sagt Malte. Es sei überall hell und man würde konstant gefilmt werden – auch in einem Busch, der als Toilette diente, berichten die Drei. „Das sind banal wirkende Situationen, die aber total entmenschlichend sind – wie das Wechseln eines Tampons im Busch“, sagt Elisabeth.

„Es war schon einfach Ziel der Sache, die Menschen über Nacht gefangenzuhalten. Sie mental und körperlich ein bisschen kaputtzumachen“, sagt Hildegard. „Und das wird kein Zeitungsartikel, keine Reportage zeigen können – wie krass und willkürlich das ist“, fügt der Aktivist hinzu. Im Verlauf der Nacht forderte die Polizei über Lautsprecher dazu auf, „politische Äußerungen zu unterlassen“.

Das Sanitätsnetzwerk Hamburg kritisiert die mangelhafte Versorgung mit Wasser und Wärmedecken. Lebensmitteln und Hygienemöglichkeiten hätte es vonseiten der Polizei gar keine gegeben. „Auch Beschuldigte haben Grundrechte und Grundbedürfnisse“, sagt Alexander Klein. „So elementare Sachen wie Trinkwasser vorzuenthalten, ist aus unserer Sicht absolut inakzeptabel“, führt der Pressesprecher aus. Er beschreibt den Kessel als „furchtbare Situation“.

Kritik gibt es auch aus der Politik. Die Linksfraktion im Landtag spricht von Willkürlichkeit und mangelhafter Versorgung. „Die Wahrung und Sicherung der Grundrechte wurde schlichtweg ausgesetzt“, heißt es in einem offenen Brief, der auf der Seite des LinXXnet zu finden ist. „Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Einsatzführung die verhältnismäßigste Möglichkeit war, in Leipzig keine Scherben-Demo zu haben", sagt hingegen Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU).

Die Wahrung und Sicherung der Grundrechte wurde schlichtweg ausgesetzt

Offener Brief

Der historische Kontext

Ältere Generationen werden sich bei den Szenen in Leipzig an den „Hamburger Kessel“ erinnert fühlen, in dem 1986 über 800 Atomkraftgegner*innen gekesselt wurden, noch bevor sich ein Demonstrationsmarsch formierte. Sie wurden bis zu 13 Stunden festgehalten, weil sie „für das Recht auf Demonstration“ protestieren wollten. Trotz Verurteilung der vier verantwortlichen Polizeiführer in „861-fachen Freiheitsberaubung“, scheint die Taktik auch heute Anklang zu finden.

Der Vorwurf des Landfriedensbruchs gegen überwiegend friedliche Demonstrant*innen verwundert im historischen Kontext auch kaum. Im Nachgang zum G20-Gipfel 2017 in Hamburg, wurden beispielsweise drei Männer wegen Landfriedensbruch verurteilt. Ihre Tat: die Beteiligung an einem Demozug über die Hamburger Elbchaussee, bei dem Autos und Mülleimer in Brand gesteckt und Scheiben von Geschäften und einem Wohnhaus eingeschlagen wurden. Konkrete Taten wurden ihnen nicht nachgewiesen.

Auch wenn die Taktiken nicht neu sind, so zeigt die Wahl der Mittel, wie ernst es dem Staat mit dem Kampf gegen den “Linksextremismus” ist. Zivile Tatbeobachter*innen in der Demo, zehn Wasserwerfer auf einem Platz, der längst unter Kontrolle gebracht ist und ein Hubschrauber zur Lageeinschätzung. Naiv könnte man fast glauben, die Polizei wollte in Leipzig den abgesagten „Tag der offenen Türe“ auf der Straße austragen.

Repression als politische Waffe

Neben der psychischen Belastung hat das Vorgehen der Polizei für die Aktivist*innen auch eine politische Ebene. Elisabeth beschreibt den Kessel als riesige Datensammlung. Alle drei geben zu, dass die Repression bei ihnen wirkt. „Wenn morgens um halb acht die Postboten klingeln und die ganze WG in Panik ist, weil wir denken, jetzt kommt die Hausdurchsuchung“, sagt Elisabeth. Und damit sind sie nicht allein.

Die kommunistische Gruppe Kappa aus Leipzig schrieb schon Anfang Mai auf ihrem Blog: „Repression wirkt. Sie wirkt sich auf die politische Praxis von Einzelnen, aber auch Gruppen aus. Sie führt zu Wut, Lähmung, Ohnmacht, Passivität und Angst.“ In Leipzig sei sie in den letzten zweieinhalb Jahren Normalität geworden. „Sie bringt nicht nur einige in den Knast, bzw. hat es bereits, sondern zielt auch auf die Einschüchterung der gesamten antifaschistischen Bewegung ab“, schreibt Kappa. Auch die kommunistische Gruppe „Redical [M]“ aus Göttingen schreibt auf Twitter, dass die Repression in Leipzig nicht zufällig so hart ausgefallen ist. „Militante antifaschistische Praxis und jede Solidarität mit dieser, sollte staatlicherseits gnadenlos unterbunden werden“.

Alexander Klein vom Sanitätsnetzwerk Hamburg berichtet, dass Situationen wie in Leipzig zunehmen würden. „Wir konnten über mehrere Generationen von Sani-Gruppen beobachten, dass das Mittel der Einkesselung immer häufiger eingesetzt wird“, sagt er. Die Entwicklung findet Klein besorgniserregend. „Auch eine Person, die schwarz gekleidet ist, hat ein Recht, an einer Versammlung teilzunehmen“, sagt er. Elf Stunden in einem Kessel zu setzen, könne man schon als Kollektivstrafe – ganz ohne richterlichen Beschluss – ansehen.

Mit der Repression gegen die anarchistische 1. Mai-Demo in Hamburg und dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung bei der letzten Generation nennen die drei Hamburger Anarchist*innen weitere aktuelle Beispiele eines repressiven Staates. „Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir uns da auf sehr autoritäre Zeiten zubewegen“, sagt Hildegard. „Aktiv zu sein, kann immer Konsequenzen haben“, sagt Elisabeth. Mögliche Repressionen, so scheint es, gehören in ihren Augen irgendwie dazu – zum Kampf für eine „befreite Gesellschaft“.

Und wie weiter?

Aber: Es gibt auch Erfolge für die Aktivist*innen. Am Abend der Urteilsverkündung im „Antifa Ost“-Verfahren zogen in Hamburg mehr als 2000 Demonstrant*innen durch die Sternschanze und das Karolinviertel. Unterschiedlichste Spektren der radikalen Linken gingen zusammen auf die Straße, zündeten Pyrotechnik und nahmen sich die Straße. „Das war voll schön zu sehen: dass das funktioniert und dass die Cops teilweise überfordert waren“, sagt Elisabeth fröhlich. Bis auf zwei Festnahmen wirkte die Polizei an diesem Abend unkoordiniert und setzte vor allem auf eine Taktik: Filmen. Ein Mittel, das die Hamburger Polizei in den letzten Monaten häufig schon einsetzt, bevor eine Versammlung auch nur losgelaufen ist.

Die Anzeigen gegen die gekesselten Aktivist*innen aus Leipzig werden wohl in der polizeilichen Statistik politisch motivierter Straftaten links auftauchen – denn politisch motivierte Straftaten werden bereits bei einem Anfangsverdacht durch die Polizei registriert.

Was die Polizei in Hamburg mit den hunderten Stunden an Videomaterial und dem gesammelten Wissen der immer anwesenden Staatsschützer*innen anfangen wird, bleibt wohl abzuwarten. Hildegard deutet an, dass bei seinen Genoss*innen immer wieder Ortungsgeräte in Fahrzeugen auftauchen würden. Das nächste Verfahren wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ist wohl nur eine Frage der Zeit.

Aufgeben scheint für Malte, Elisabeth und Hildegard trotz Repression keine Option zu sein. Elisabeth nimmt die Energie für ihr Handeln aus der Unzufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse. „Es ist auch die Gewalt, die aufgrund des Systems täglich stattfindet, die einen dazu antreibt, die Verhältnisse lebenswerter zu machen“. Malte glaubt, er könne gar nicht mehr aufhören. „Weil ich gar nicht wüsste, was ich mit dieser Wut machen würde, wenn sie nicht mehr in meine politische Arbeit fließen kann“, sagt der Aktivist. Für Hildegard sind es auch realpolitische Herausforderungen wie die Klimakrise, die ihn motivieren. Wenn der Staat sie bekämpft, müssten sie ja irgendwas richtig machen, meint Hildegard. „Bei mir schwingt immer die Hoffnung mit, dass es eines Tages eine Welt geben wird, in der alle friedlich nach ihren Bedürfnissen leben können“.